Warum es erst mal schlechter wird/werden kann

Viele AD(H)Sler:innen kennen folgendes Phänomen: jahrelang hat man sich „durchgewuselt“, unterschiedliche Therapien gemacht, mal was geschafft, oft aber auch nicht, und irgendwie nie genau gewusst, was mit einem „nicht stimmt“.

Und dann, endlich, kommt jemand mit der möglichen Diagnose „ADHS/ADS“ um die Ecke. Man macht sich schlau, man erkennt sich, man wundert/ärgert sich/trauert oder ist auch wütend, warum das noch niemand eher entdeckt hat, schließlich sind doch alle Anzeichen und Symptome recht eindeutig.

Aber nu, jetzt kann es ja weitergehen. Endlich weiß man, was mit einem los ist, dann kann es ja gar nicht mehr so schwer sein, nun endlich überhaupt was zu tun, und das dann auch noch immer 100% richtig und vor allem so, wie man es gerne haben will: absolut perfekt.

Und dann kommt das böse erwachen. Zu wissen, dass man AD(H)S hat, ändert noch gar nix. Und das Schlimmste ist, dass man nun ja sogar weiß, womit man es zu tun hat, und trotzdem funktioniert es/man nicht.

Und dann kommen Medikamente ins Spiel: ohhh Shit…mit deren Wirkung kann man sich besser konzentrieren. Ist in Teilen ganz toll und sehr hilfreich, führt aber regelmäßig bei Menschen in negativen Denkschleifen und -mustern dazu, dass sie sich eben auch besser auf alles Negative konzentrieren können. Auf einmal erkennt man, dass man ja tatsächlich im Zentrum seines eigenen Universums steht, und auch für diverse Scheitereien selbst verantwortlich ist. Das ist noch nicht unbedingt das Ergebnis, welches man sich bei der Nutzung der Medikation versprochen hat.

Das gehört dazu. Sowohl die Wut, die Trauer, der Frust, weil man jahrelang auf unterschiedliche Erkrankungen behandelt wurde, viel Zeit verschenkt hat, und es doch eigentlich sehr offensichtlich war, dass AD(H)S die Ursache ist, als auch, dass man unter den neuen Bedingungen erst mal noch unsicherer und chaotischer ist, und Medikation erst mal gegenteilige Wirkung hat.

Meine Übersetzung dazu war seinerzeit:
Jemand ist bei Windstärke 10 einige Zeit mit seiner Angel auf einem Kutter auf dem Meer, und hat überhaupt kein Problem damit, auf dem schaukelnden Schiff zu sein. Ist mit Angeln beschäftigt, und merkt den Seegang dabei gar nicht.

Aber im Anschluss, wenn die Person wieder an Land ist, und das Schaukeln ist vorbei, dann geht es der Person plötzlich schlecht, weil das Schaukeln nicht mehr da ist, und keine Ablenkung vorhanden, um abzulenken….

Es dauert einfach, bis sich die veränderte Wahrnehmung auswirken kann. Wenn es vorher ohne Medis z.B. einen permanenten Gedankenstrom gab, in dem man sich immer mal wieder verlieren konnte, und da ist plötzlich Ruhe, weiß man das nicht einzuordnen, und reagiert aggro, weil es „anders“ ist…

Ja, AD(H)S und Geduld, dass sind so die Dinge, die überhaupt nicht miteinander harmonieren. Aber es ist nun mal so, dass man „mentale Pfade“, die über Jahrzehnte eingelatscht und etabliert wurden, binnen kürzester Zeit nicht mehr nutzt, und dafür „Alternativ-Strecken“ parat hat, die anders, ruhiger, geplanter, besser verlaufen. Dazu kommt, dass manche dieser Pfade durchaus Teile von „Überlebensstrategien“ sind, mit denen man sich durchgeschlagen hat, um sich zu schützen usw. Das lässt sich nicht so schnell verlernen, wie man es gerne hätte.

Wenn wir unsern Rollstuhl sehen könnten

Der Mensch im echten Rollstuhl:

Stell dir vor, jemand kommt in einen Raum in einem Rollstuhl. Sofort ist sichtbar, dass dieser Mensch nicht in der Lage ist, zu stehen oder zu laufen. In der Regel reagieren die meisten Menschen mit Verständnis und bieten Hilfe an. Sie würden niemals auf die Idee kommen, von dieser Person zu verlangen, aufzustehen und durch den Raum zu gehen. Es gibt eine Anerkennung der Einschränkung, und man versucht, Barrieren zu entfernen – sei es durch Rampen, Aufzüge oder das Anbieten von Unterstützung.

Was aber, wenn das nicht so wäre? Wenn dieser Mensch im Rollstuhl ständig zu hören bekäme: „Jetzt streng dich doch mal an!“ oder „Es kann doch nicht so schwer sein, einfach aufzustehen!“ Das würde nicht nur für Frustration sorgen, sondern auch das Gefühl vermitteln, abgelehnt, nicht verstanden und in seiner Situation völlig allein gelassen zu sein. Die Person würde vielleicht anfangen, an sich selbst zu zweifeln, ihre Selbstachtung verlieren und irgendwann glauben, dass sie wirklich „faul“ oder „unfähig“ ist, obwohl ihre Einschränkung offensichtlich und real ist.

Der Mensch mit ADHS in einem „mentalen Rollstuhl“:

Nun übertragen wir das auf Menschen mit ADHS oder ADS, die in einem „mentalen Rollstuhl“ sitzen. Ihre Einschränkungen sind unsichtbar, aber nicht weniger real. Wenn sie Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, Aufgaben zu planen oder Gefühle zu regulieren, wird ihnen oft gesagt: „Streng dich mehr an!“, „Das musst du doch hinbekommen!“ oder „Reiß dich endlich zusammen!“. Von außen scheint es, als könnten sie sich doch einfach aufraffen, sich ordnen, „normal“ funktionieren – doch genau das ist für sie nicht ohne weiteres möglich.

Die Folgen für AD(H)Sler:innen sind ähnlich, wie sie bei der fiktiven Person im echten Rollstuhl wären, würde diese dem ausgesetzt sein, aber für AD(H)Sler:innen sind diese Erfahrungen real, weil die Einschränkung unsichtbar ist und das Verständnis dadurch ja komplett fehlt. Sie erleben Frustration, Scham und das Gefühl, ständig zu versagen. Wenn man ständig aufgefordert wird, „normal“ zu sein, obwohl einem das nicht möglich ist, zweifelt man nicht nur an seinen Fähigkeiten, sondern auch an seinem Wert. Das Selbstwertgefühl leidet enorm, und man entwickelt möglicherweise eine innere Überzeugung, dass man unfähig, faul oder nicht gut genug ist.

Das Fazit:

Während der Mensch im echten Rollstuhl meist auf Verständnis und Rücksicht stößt, werden Menschen mit ADHS oft als nicht ausreichend bemüht oder faul wahrgenommen. Doch genauso wie der Rollstuhl ein reales Hilfsmittel für physische Einschränkungen ist, brauchen Menschen mit ADHS Unterstützung, Akzeptanz und Verständnis, um mit ihrer unsichtbaren „Einschränkung“ umzugehen. Nur dann können sie lernen, mit ihren Herausforderungen umzugehen und ihren eigenen Weg zu finden – ohne ständig auf die „Klappe zu fallen“.


PS: Wichtig ist, dass diese Metapher keinesfalls eine Konkurrenz zwischen körperlichen und mentalen Einschränkungen darstellen soll. Beide Formen von Einschränkungen sind auf ihre eigene Weise herausfordernd und beeinträchtigen das Leben der Betroffenen erheblich. Während der Rollstuhl als Symbol für physische Barrieren dient, soll der „mentale Rollstuhl“ lediglich verdeutlichen, dass auch unsichtbare Hürden echten Einfluss auf den Alltag haben. Es geht darum, Verständnis und Empathie für unterschiedliche Erfahrungen zu schaffen, ohne dabei das Leiden der einen oder anderen Gruppe zu relativieren.

Die Lebensgeschichten von Lisa und Paul

Wir Menschen mit ADHS/ADS wissen oft nicht oder vergessen immer wieder, dass ADHS/ADS eben unter momentanen „Lebensbedingungen“ in der Gesellschaft „wie eine lebensverkürzende Krankheit“ wirkt, die unbehandelt laut Studien durchaus zwischen 11 und 13 Jahren Lebenszeit nimmt. Niemand käme auf die Idee, jemanden z.B. mit Diabetes für dessen Defizite „die Schuld zu geben“. Genau das passiert aber mit AD(H)Sler:innen.

Deshalb hier mal eine kleine Metapher, die verdeutlicht, wie unsinnig es ist, wenn wir uns selbst die Schuld daran geben, nicht alles zu können, was von uns erwartet wird oder wir selbst von uns erwarten:

Es war einmal ein Mann namens Paul, der seit seiner Kindheit mit ADHS zu kämpfen hatte. Die Welt um ihn herum schien immer wieder zu sagen, dass er sich nur mehr anstrengen müsse. „ADHS? Das ist doch bloß eine Ausrede,“ hörte er oft.

Paul fühlte sich schuldig für seine Schwierigkeiten, seine Unordnung, seine Unpünktlichkeit und sein ständiges „Anderssein“. Er hielt sich selbst für faul, unorganisiert und manchmal sogar dumm, obwohl er sich bemühte, mitzuhalten.

Neben Paul lebte Lisa, die Diabetes Typ 1 hatte. Lisa musste jeden Tag Insulin spritzen und auf ihre Ernährung achten, um gesund zu bleiben. Doch niemals wurde sie dafür verurteilt. Niemand sagte zu ihr: „Du musst einfach nur härter arbeiten, dann brauchst du das Insulin nicht.“ Stattdessen bekam sie Unterstützung, Verständnis und das Wissen, dass ihre Erkrankung nicht ihre Schuld war. Es war einfach ein Teil von ihr, mit dem sie lernen musste zu leben.

Stell dir nun vor, Lisa würde genauso behandelt werden wie Paul. Man würde ihr sagen: „Du brauchst kein Insulin, reiß dich doch einfach zusammen!“ Oder: „Du willst doch nur Aufmerksamkeit, wenn du auf deinen Blutzucker achtest und wir extra für dich kochen müssen, weil du angeblich nicht alles verträgst.“ Lisa würde beginnen, sich für ihre Diabetes zu schämen. Sie würde das Insulin weglassen, aus Angst, als schwach abgestempelt zu werden. Und was würde passieren? Lisas Gesundheit würde sich drastisch verschlechtern. Ihre Organe würden Schaden nehmen, und ihr Leben würde sich um Jahre verkürzen.

Genauso verhält es sich bei Paul. Sein ADHS ist keine „Ausrede“, sondern ein Teil seiner Realität. Weil er jedoch in einer Welt lebt, die ihm ständig sagt, er sei faul oder unorganisiert, fällt es ihm schwer, Hilfe und Unterstützung anzunehmen. Er kämpft gegen sich selbst, statt sich das „Insulin“ für seine Seele – in Form von Akzeptanz, Struktur, Therapie oder auch Medikamente – zu gönnen. Und genau wie bei Lisa kann das für Paul gefährlich werden. Die ständige Selbstverurteilung, das innere Kämpfen und der Stress können sein Leben verkürzen, um 11 bis 13 Jahre.

Paul und Lisa haben beide eine Erkrankung, die ihre Gesundheit und ihr Leben beeinflusst. Aber während Lisa Unterstützung erfährt, wird Paul dafür kritisiert, etwas zu haben, das er sich nicht ausgesucht hat. Es ist Zeit, auch Paul das Verständnis und die Akzeptanz zu geben, die er verdient – wenn andere das nicht tun, fängt er selbst am besten sofort damit an, damit er lernen kann, sein „Insulin“ ohne Schuldgefühle zu nutzen.

PS: die Namen sind natürlich fiktiv. Genauso wie die Symptome. Es passt aber auch, wenn man „unaufmerksam“ oder „verpeilt“ nimmt.