Wenn wir unsern Rollstuhl sehen könnten

Der Mensch im echten Rollstuhl:

Stell dir vor, jemand kommt in einen Raum in einem Rollstuhl. Sofort ist sichtbar, dass dieser Mensch nicht in der Lage ist, zu stehen oder zu laufen. In der Regel reagieren die meisten Menschen mit Verständnis und bieten Hilfe an. Sie würden niemals auf die Idee kommen, von dieser Person zu verlangen, aufzustehen und durch den Raum zu gehen. Es gibt eine Anerkennung der Einschränkung, und man versucht, Barrieren zu entfernen – sei es durch Rampen, Aufzüge oder das Anbieten von Unterstützung.

Was aber, wenn das nicht so wäre? Wenn dieser Mensch im Rollstuhl ständig zu hören bekäme: “Jetzt streng dich doch mal an!” oder “Es kann doch nicht so schwer sein, einfach aufzustehen!” Das würde nicht nur für Frustration sorgen, sondern auch das Gefühl vermitteln, abgelehnt, nicht verstanden und in seiner Situation völlig allein gelassen zu sein. Die Person würde vielleicht anfangen, an sich selbst zu zweifeln, ihre Selbstachtung verlieren und irgendwann glauben, dass sie wirklich “faul” oder “unfähig” ist, obwohl ihre Einschränkung offensichtlich und real ist.

Der Mensch mit ADHS in einem “mentalen Rollstuhl”:

Nun übertragen wir das auf Menschen mit ADHS oder ADS, die in einem “mentalen Rollstuhl” sitzen. Ihre Einschränkungen sind unsichtbar, aber nicht weniger real. Wenn sie Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, Aufgaben zu planen oder Gefühle zu regulieren, wird ihnen oft gesagt: “Streng dich mehr an!”, “Das musst du doch hinbekommen!” oder “Reiß dich endlich zusammen!”. Von außen scheint es, als könnten sie sich doch einfach aufraffen, sich ordnen, “normal” funktionieren – doch genau das ist für sie nicht ohne weiteres möglich.

Die Folgen für AD(H)Sler:innen sind ähnlich, wie sie bei der fiktiven Person im echten Rollstuhl wären, würde diese dem ausgesetzt sein, aber für AD(H)Sler:innen sind diese Erfahrungen real, weil die Einschränkung unsichtbar ist und das Verständnis dadurch ja komplett fehlt. Sie erleben Frustration, Scham und das Gefühl, ständig zu versagen. Wenn man ständig aufgefordert wird, „normal“ zu sein, obwohl einem das nicht möglich ist, zweifelt man nicht nur an seinen Fähigkeiten, sondern auch an seinem Wert. Das Selbstwertgefühl leidet enorm, und man entwickelt möglicherweise eine innere Überzeugung, dass man unfähig, faul oder nicht gut genug ist.

Das Fazit:

Während der Mensch im echten Rollstuhl meist auf Verständnis und Rücksicht stößt, werden Menschen mit ADHS oft als nicht ausreichend bemüht oder faul wahrgenommen. Doch genauso wie der Rollstuhl ein reales Hilfsmittel für physische Einschränkungen ist, brauchen Menschen mit ADHS Unterstützung, Akzeptanz und Verständnis, um mit ihrer unsichtbaren „Einschränkung“ umzugehen. Nur dann können sie lernen, mit ihren Herausforderungen umzugehen und ihren eigenen Weg zu finden – ohne ständig auf die „Klappe zu fallen“.


PS: Wichtig ist, dass diese Metapher keinesfalls eine Konkurrenz zwischen körperlichen und mentalen Einschränkungen darstellen soll. Beide Formen von Einschränkungen sind auf ihre eigene Weise herausfordernd und beeinträchtigen das Leben der Betroffenen erheblich. Während der Rollstuhl als Symbol für physische Barrieren dient, soll der “mentale Rollstuhl” lediglich verdeutlichen, dass auch unsichtbare Hürden echten Einfluss auf den Alltag haben. Es geht darum, Verständnis und Empathie für unterschiedliche Erfahrungen zu schaffen, ohne dabei das Leiden der einen oder anderen Gruppe zu relativieren.

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